Dies ist eine sehr interessante, kontroverse (da sich moralische Sichtweisen einschalten) und nicht leicht zu beantwortende Frage!
Ansatz: Territoriales Paarungsverhalten bei Tieren
Zunächst soll darauf hingewiesen werden, dass es auch Tierarten gibt, die „privaten“ Sex praktizieren. Im Tierreich finden sich einige territoriale Verhaltensweisen, die während der Paarung eine Form von Sicherheit schaffen. Zum Beispiel bei Eidechsen (Davis, 1980), Vögeln (Brown, 1969; Greenwood, 1980) und Säugetieren (Greenwood, 1980). Sicherheit scheint hier also eine wichtige Rolle während der Paarung zu spielen. Dem könnte man jedoch entgegen halten, dass das Verlassen der Gruppe eine höhere Gefahr darstellt, diese jedoch in Kauf genommen wird, um Rivalen auszuschließen.
Ansatz: Evolutionäre Entwicklung der Schande
Wir können den Ursprung einer solchen „Abneigung“ (vor Preisgabe von Sex) auf das Gefühl der Schande zurückführen, das vom evolutionären Standpunkt aus erklärt werden könnte. Darwin (1872) argumentierte, dass Scham das darstellt, was auf der primitiven Ebene ein instinktives Streben nach Deckung ist, aber seine Ausarbeitungen dazu waren nicht klar. MacCurdy (1930) entwickelte diese Idee weiter und argumentierte, dass der prähistorische Mensch versuchte, Aktivitäten zu verschleiern/verbergen, die ihn in einer feindlichen Umgebung einer Gefahr aussetzen würden, hierzu zählen z. B. Essen, Schlafen, Geschlechtsverkehr und Ausscheidung. Vor der Ausübung von Handlungen, die eine rasche Selbstverteidigung einschränken oder sogar verhindern, versuchte der prähistorische Mensch sich schützend zu verbergen.
Malinowski (1927) schreibt: Es ist charakteristisch, dass sexuelle Aktivitäten, Schlaf und Ausscheidung in fast jeder Gesellschaft von schützenden Tabus und Mechanismen der Verschleierung und Isolation umgeben sind.
In diesem Zusammenhang könnte sich das Gefühl der Schande als Reaktion auf das natürliche Streben nach Selbstschutz entwickelt haben (Dawrin, 1872; MacCurdy, 1930). Evolutionär würde dies folglich die Grundlage für die mangelnde Bereitschaft zum sexuellen Verkehr in der Öffentlichkeit bilden.
Weil die persönliche Sicherheit mit der Entwicklung der Zivilisation zunahm, hat sich auch das Schamgefühl verändert und ist raffinierter geworden (MacCurdy, 1930). Die Schande besteht nur für bestimmte Situationen (z. B. Sex in der Öffentlichkeit), gilt jedoch nicht für andere soziale Bedingungen. MacCurdy nennt Beispiele der Ausscheidung, bei denen es nicht ungewöhnlich ist, dass Partner in Gegenwart des anderen oder in Gegenwart von Freunden urinieren. Wir können auch den FKK-Strand der Kategorie “schamfrei” zuordnen.
Insgesamt würde die evolutionäre Darstellung hervorheben, dass unser Bedürfnis nach privatem Sex mit einer erhöheten Sicherheit, der Verbreitung von Scham und der Entwicklung von “Anstand” zusammenhängt.
In diesem Sinne weist Malinowski auch darauf hin, dass der Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit Eifersucht erregen könnte und Rivalen einladen würde, das zu entreißen, was gerade genossen wird.
Exhibitionismus als Krankheitsbild
Exhibitionismus wird als sexuelle Erregung definiert, indem man seinen Körper offenbart oder sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit ausführt, und es ist eine Form der Paraphilie (sexuelle Perversion mit Erregung an Gegenständen/Situationen). Die Anziehungskraft, beim Geschlechtsverkehr von anderen beobachtet zu werden, ist eine Form des Exhibitionismus. Das Vorhandensein solcher sexuellen Verhaltensweisen als Krankheit ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft soziale und moralische Normen in Bezug auf die Hemmung des sexuellen Verhaltens in der Öffentlichkeit tief verwurzelt hat. Die Mehrheit der Länder verbietet Sex in der Öffentlichkeit und beschränkt den Exhibitionismus auf bestimmte Orte (z. B. FKK-Strände).
Normen der Gesellschaft (Hirschfeld)
Die folgenden Ausführungen stammen vom Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868 - 1935): Menschen sind "soziale Tiere", und ihre Gewohnheiten, Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Überzeugungen werden von der Gesellschaft geprägt, in die sie hineingeboren werden. Dies gilt für Schönheitsideale genauso wie für sexuelle Einstellungen und Verhaltensweisen. Menschen werden mit einem bestimmten Potenzial geboren, ihre Sexualität auszudrücken, doch dieses Potenzial wird auf vielfältige Weise und in verschiedenen Graden verwirklicht. In sexuell repressiven Gesellschaften kann es sogar vollständig unterdrückt sein.
Der Sachverhalt lässt sich anhand der Analogie zur Sprache veranschaulichen: Alle Kinder werden mit einem Sprachpotential geboren, sind jedoch nicht für eine bestimmte Sprache vorprogrammiert. Einige Gesellschaften haben "geheime" Sprachen für Männer und Frauen, und Kinder werden diese dann entsprechend ihrem Geschlecht auch erlernen. Wenn die Kinder intelligente Eltern haben, können sie lernen, außergewöhnlich gut zu sprechen. Oder das Gegenteil passiert.
Das menschliche Sexualverhalten entwickelt sich auf ähnliche Weise. Kinder lernen, das Verhalten anzunehmen, das für ihre jeweilige Kultur akzeptabel ist. Sie erwerben ebenso je nach Geschlecht unterschiedliche männliche und weibliche Qualitäten. Wenn sie tolerante Eltern haben, wird ihre sexuelle Freiheit zunehmen, aber eine puritanische Erziehung wird sie schuldig fühlen lassen und ihre Sexualität blockieren. Einige frustrierte Kinder könnten eine "lockere Moral" entwickeln und Sex hauptsächlich dazu verwenden, um ihre Feindseligkeit auszudrücken. Andere, die sehr zufrieden sind, wählen ihre Sexualpartner sorgfältig aus und überschütten sie mit Zuneigung. Oder einige Menschen beschließen, die Freuden des Sexes aufzugeben und aus religiösen oder moralischen Gründen ein Keuschheitsgelübde abzulegen.
Der Vergleich von erlernter Sprache und erlernter Sexualität muss sich jedoch nicht auf diese Ebene beschränken, d. h. auf persönliche Eigenheiten, Misserfolge oder Erfolge. Menschliche Sexualität und Sprache sind auch allgemein vergleichbar und können auf ihre kollektiven Auswirkungen untersucht werden. Verschiedene Sprachen drücken unterschiedliche Grundphilosophien aus. Sie malen unterschiedliche Bilder der Realität und reflektieren unterschiedliche Lebensansätze. Kurz gesagt, jede Sprache prägt die Wahrnehmung derer, die damit aufwachsen. Abgesehen von bestimmten persönlichen Meinungen lernen große Gruppen von Menschen zusammen, die Welt je nach ihrer Muttersprache unterschiedlich wahrzunehmen.
Dies gilt auch für "einheimische" Sexualphilosophien. Das sexuelle Verhalten von Männern und Frauen spiegelt nicht nur ihren persönlichen Geschmack wider, sondern in hohem Maße auch die Grundwerte der Gesellschaft oder der sozialen Gruppe, der sie zugehören. Egal wie sehr sie sich als Individuen unterscheiden mögen, ihr moralischer Geist wird immer von den zugrunde liegenden Annahmen ihrer gesamten Kultur geprägt. In hedonistischen und toleranten Kulturen sind die meisten Menschen wahrscheinlich fröhlich und sinnlich. In puritanischen und repressiven Kulturen neigen sie dazu, sich ängstlich und gehemmt zu verhalten. Im ersten Fall werden sie Sex als Quelle des Glücks ansehen, im zweiten Fall werden sie Sex als Quelle der Schande verbergen.
Wenn wir also die sexuellen Einstellungen eines Individuums untersuchen, haben wir es tatsächlich mit zwei getrennten Fragen zu tun. Wir fragen nicht nur: "Wie gut entspricht dieser Mann oder diese Frau den sexuellen Standards seiner Gesellschaft?" sondern auch: "Was ist die Grundlage dieser Standards? Welche Bedeutung gibt diese Gesellschaft dem Sex?"
In den meisten Gesellschaften wird die Bedeutung von Sex durch die Religion offenbart. Zumindest war dies in Gesellschaften der Vergangenheit sehr oft der Fall und selbst in modernen, säkularen Gesellschaften bleiben die sexuellen Standards oft an ältere religiöse Lehren gebunden. Die alten Israeliten sahen das Wesen von Sex in der Fortpflanzung und verurteilten jedes sexuelle Verhalten, das dieses Ziel nicht förderte. Die frühen Christen nahmen diese enge Sichtweise an und schränkten sie sogar weiter ein, indem sie Sex als notwendiges Übel betrachteten und die Tugenden der sexuellen Abstinenz priesen. Sexuelle Aktivitäten waren nur dann akzeptabel, wenn sie zu einer Schwangerschaft innerhalb der Ehe führen konnten, und selbst dann sah man es mit Verlegenheit.
Christen fanden ihre sexuellen Ansichten durch sachliche Beobachtungen bestätigt:
- Bedecken respektable Männer und Frauen nicht ihren Körper mit Kleidung? Und beweist dies nicht, dass sie ein angeborenes Gefühl von “Anstand” haben?
- Vermeiden Menschen nicht, ihre sexuellen Fantasien offen zu diskutieren? Und beweist dies nicht, dass sie sich mit diesen unwohl fühlen?
- Verbergen Eltern nicht die intime Seite ihrer Ehe vor den Kindern? Und beweist dies nicht, dass etwas mit dem Geschlechtsverkehr verkehrt ist?
- Hat die Natur selbst nicht überall gezeigt, dass Sex von Natur aus niederträchtig und demütigend ist?
So schrieb der nordafrikanische Bischof und Kirchenvater Augustinus von Hippo (354 - 430) dogmatisch über die "Schande, die jeden Geschlechtsverkehr begleitet" in seinem Buch “Die Stadt Gottes” (Buch XIV, Kapitel 18):
Geschlechtsverkehr wird immer mit Lust ausgeübt und muss daher verborgen werden ... In der Tat sorgt ein natürliches Schamgefühl dafür, dass Geheimhaltung auch in Bordellen gewährleistet wird ... Unzucht wird selbst von schamlosen Männern als beschämend bezeichnet, und obwohl sie Sex mögen, wagen sie sich nicht zu offenbaren ... Auch der eheliche Verkehr, so respektabel und legitim er auch sein mag, erfordert immer ein privates Zimmer und den Ausschluss von Zeugen. Bevor der Bräutigam sich um seine Braut kümmert, wendet er sich von allen seinen Begleitern ab ... Ein Grund kann nur darin liegen, dass Dinge, die von Natur aus angemessen scheinen, auch mit Strafe und Schande begleitet werden.
Weiterhin bezeichnete Augustinus die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane als obszöne Teile und betrachtete alle fleischlichen Genüsse mit Ekel. Darüber hinaus war er überzeugt, dass alle “anständigen” Menschen überall gleich darüber dachten.
Tatsächlich wurde seine Sicht auf Sex auch zu seiner Zeit nicht überall geteilt. Es gab immer noch Stämme in fernen Teilen des Römischen Reiches, die ihre alten heidnischen Bräuche bewahrten und sich an Gruppensex und verschiedenen sexuellen Darbietungen erfreuten. Erst viel später und nur durch christlichen Einfluss wurden Augustinus Ansichten für die meisten Europäer zur gegebenen Wahrheit. Außerhalb Europas entwickelten jedoch viele Gesellschaften mit sehr unterschiedlichen sexuellen Werten.
Weiter im Folgekommentar: